Eine Diskussion, welche Stadt wohl am „berlinerischsten“ ist, mag mindestens grotesk anmuten. Wer will Nürnberg schon mit Berlin vergleichen – Berlin ist weit über sechs Mal so groß wie Nürnberg, Berlin ist nicht nur Stadt sondern auch selbstständiges Bundesland und damit in vielen Entscheidungen freier als eine Kommune – und: Berlin hat eine internationale Strahlkraft, derer sich der Bundesbürger nur selten bewusst wird – nicht nur als Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland sondern auch wegen der geographischen Lage und der jüngsten Geschichte – als Drehscheibe zwischen Ost und West (Deutschland wie Europa). All das bläst einer Stadt auch dann noch warmen Sommerwind unter die Flügel, wenn die Verschuldung bei knappen 60 Milliarden Euro liegt (zum Vergleich Nürnberg: 1,3 Milliarden Euro), wenn Teile des ÖPNV nicht richtig funktionieren und überdimensionierte Flughäfen schön langsam in den märkischen Sand sinken.
Als kleiner Bub bin ich von meinen Eltern (zu Zeiten der Teilung) mit nach Westberlin genommen worden. An meine Gefühle damals kann ich mich gut erinnern: Berlin war ein Abenteuer und Berlin war dunkel. Bis auf die Leuchtreklamen am Europacenter und das Café Kranzler und das KaDeWe habe ich Berlin als fürchterlich dunkel in Erinnerung*. Diese Stimmung konnte ich erst zehn Jahre später wieder aufgreifen, als ich den Film „Der Himmel über Berlin“ zum ersten Mal sah, und allein dessen Präzision in der Beobachtung mich noch heute gleichermaßen erschreckt und berührt. Als ich als Jugendlicher Mitte der 1990er Jahre wieder nach Berlin kam, atmete die Stadt auf – aus jeder Bodenspalte und zwischen jeder Straßenschlucht wehte ein milder Wind des Aufbruchs. Ich schreibe hier nicht nur vom ersten Besuch der Galerie Tacheles sondern auch vom ersten gut geführten Antiquariat, das Bücher nach Kilopreis verkaufte, von meiner ersten Lovepoarade, von dem vielen Gekritzel auf Wänden und Pfählen, das nur allzu oft das Leben nach der politischen Wende thematisierte, das vielleicht eine Art öffentliche Schreibtherapie war und heute als „Street Art“ verklärt wird. Ich schreibe aber auch von Wohnungen in Prenzlauer Berg, die noch zur Jahrtausendwende mit Kohlen geheizt wurden, Klo habe Treppe.
Was hat das alles mir Nürnberg zu tun? Nürnberg ist für mich so gänzlich anders als Berlin. Nürnberg ist langsam und konstant. Ich kenne Straßenzüge in St. Leonhard, die sehen heute noch genau so aus, wie in den 1980er Jahren, als ich sie das erste Mal sah und ich kenne Fotos, da weiß ich, dass sie noch genau so aussehen, wie in den 60ern. In manchem Nürnberger Vorort fühlt man sich erdrückt von überbordender Spießigkeit. Und in manchem Straßenzug in der Südstadt mag man Angst bekommen, dass in ein paar Jahren soziale Unruhen ausbrechen, so niedergewirtschaftet sind die. Strahlkraft? Aufbruch? Pustekuchen. Wo der Staub vergangener Generationen nicht liegt und wo nicht historisierende Altstadt ist, da stehen seelenlose Funktionsbauten unserer Tage.
Und dann veröffentlicht Puls, ein Spartenradioprogramm des Bayerischen Rundfunks, einen Blogpost mit dem etwas seltsamen Titel „Hipsterhauptstadt mit Herz – 5 Gründe warum Nürnberg das bessere Berlin ist“ und schmiert damit fingerdick Balsam auf die geschundene fränkische Volksseele. Irgendwo ist schon klar , dass dieser Post nicht ganz ernst gemeint ist. Und doch stimmt er ein in einen Tenor, den ich in den letzten Monaten immer wieder höre: Nürnberg ist so hip, so kreativ, so toll geworden – Nürnberg kann es mit Berlin aufnehmen. Und aus den Reaktionen, die ich per Mail bekam, via Twitter und in den Blogs schließe ich, dass dieses BR-Ding gerde ernst genommen wird. Krass, oder?
Also schaue ich mir mal die fünf Punkte an, warum wir gerade besser sein sollen, als Berlin:
Zuerst einmal wird Gostenhof ins Feld geführt, wie toll und kreativ dort alles ist. Redakteure des Bayerischen Rundfunks müssen einen Narren an Gostenhof gefressen haben – zu Jahreswechsel erst sendete das dritte Programm eine Doku über die Fürther Straße (vgl. hier), bei der ins selbe Horn geblasen wurde. Es ist in Gostenhof im Prinzip ja ähnlich wie in Kreuzberg und Prenzlauer Berg: Erleben Stadtviertel einen wirtschaftlichen Niedergang und lässt Bausubstanz und Infrastruktur eine entsprechende Nutzung zu, so siedeln sich auf den günstigen Flächen Menschen mit viel Kreativität und wenig Geld an. Das geht ein paar Jahre lang so gut, dann werden vom Nimbus der Kreativen all jene angezogen, die mehr Geld als Kreativität haben und an der Stimmung partizipieren wollen. Wenn dann die Gentrifizierung durchschlägt, ist die Stimmung zwar im Arsch, dann kommen die Prenzlbergmuttis, aber der Stadtteil ist auf die nächsten dreißig Jahre saniert. Was heute GoHo ist, war vor 15 Jahren noch Johannis. Und wer sagt, dass – angesichts des Abstiegs der Südstadt – im Jahre 2020 nicht die Allersberger Straße der zukünftige kreative Hotspot Nürnbergs ist?
In GoHo liegen Quelle und AEG, beide ziehen kunstsinnige Menschen an. Doch der Wegzug der Zentrifuge, Dirk bemerkt das zu Recht in seinem Blogpost „warum Nürnberg nicht das bessere Berlin ist“, zeigt, was „Auf AEG“ wirklich ist: Ein Investitionsprojekt. Solche Projekte müssen sich entwickeln, das dauert fürgewöhnlich zehn Jahre, dann sind die Flächen gewinnbringend vermietet. Schräg gegenüber kann man das am TA-Gelände recht gut studieren. Auf AEG passiert gerade im Kleinen das, was in GoHo im Großen passiert. Was aber ist mit dem nahegelegenen Quelle-Areal? Hier spricht man von Abriss weiter Teile – die schiere Größe lässt eine wirtschaftliche Projektierung selbst mittelfristig nicht zu. Auf Sicht ist das Quelle-Gelände ein Millionengrab. Ich wage ja schon fast zu prophezeien, dass man den Kopfbau und den Turm stehen lässt, der Rest wird abgerissen und dann kommt Wohnungsbau dahin. Und Nürnberg braucht Wohnungen – sonst würde das Ding am Rangierbahnhof nicht so ein großes Projekt. Auch auf Quelle hat Kreativität also nur einen bedingt geschützten Raum. Mir tun die Kreativen GoHos ein wenig leid, denn ich habe das Gefühl, dass sie immer nur „Geduldete“ sind. Und ich kann mir vorstellen, dass das – ganz tief in einem drin – weh tut. Inwieweit dieser „Schmerz“ (gleichsam als Stachel im eigenen Fleisch) der Kunst förderlich ist – oder wegen der fehlenden Freiheit abträglich – vermag ich nicht zu beurteilen. Auf der anderen Seite wünsche ich mir gerade von diesen Kreativen, die Erkenntnis zuzulassen, dass sie auch nur ein Rädchen in diesem Gentrifizierungsuhrwerk sind, wenn auch das coolste. Und meines Erachtens kann nur Emanzipation die passende Antwort darauf sein. Diese Art der Emanzipation ist mitnichten neu – in den ausgehenden 1970er Jahren fand sie statt – im ehemaligen KOMM, das heute auch nur noch glattgebügelter Kunstbetrieb nach städtisch-sozioaldemokratisch-kulturpolitischem Diktum ist (und wer hats gemacht? Der CSU-SaufkopfMann Ludwig Scholz – ich muss mich gerade zusammennehmen, dass mir nicht gleich ein bisschen Kotze hochkommt). Wenn sich die Kreativen auf AEG und in der Quelle nicht politisch emanzipieren, dann werden sie irgendwann halt nicht mehr geduldet, wenn sie ihre Funktion erfüllt haben. Hey! Kreativszene! Quelle und AEG sind Investitionsdinger mit riesigen Volumina! Glaubt ihr wirklich, ihr habt da auf Dauer Platz?! Glaubt ihr wirklich, ihr habt auf Dauer in GoHo Platz?! Und jetzt kommts: Dasselbe ist doch in Berlin genau so passiert! Nürnberg ist hier nicht cooler als Berlin, Nürnberg ist halt nur zwanzig Jahre später dran.
Ich muss jetzt mal einen Exkurs zum Thema Quelle und AEG machen:
Als die AEG noch AEG war, als da noch Spüler und Waschmaschinen vom Band liefen, wurde der Standort Nürnberg – obwohl profitabel arbeitend – vom Electrolux-Konzern aufgegeben. Ich war damals in der IG Metall engagiert und oft beim Streik 2006 mit vor Ort. In der AEG haben damals 1750 Menschen ihren Arbeitsplatz verloren und mit ihm Existenz, Sicherheit und Zuversicht. Ich habe dort Kollegen, echte kampferprobte Brocken, zynische Bären, die normalerweise nichts umhaut, leise in sich hineinschluchzend gesehen, ohne Hoffnung.
Schaut doch mal in die Familien rein, in denen bei der Quelle gearbeitet worden ist, Redet mal mit den Leuten, trinkt zwei drei Bier mit ihnen und lasst Euch mal erzählen, was das bedeutet. Für mich ist Quelle und AEG toll und spannend – und zugleich auch ein Friedhof tausender Zukunftspläne, Sicherheitsgefühle, ein Friedhof von Stolz, einem Betrieb angehört zu haben, der etwas galt und nicht zuletzt ein Friedhof etlicher Lebensentwürfe. Und dann schaut doch mal auf die „anderen“ Nürnberger, nicht nur auf die jungen hippen Akademiker, schaut doch mal auf die Arbeiter und Angestellten, malt Euch doch mal aus, was die mit Quelle und AEG verbinden (und wenn Euch das schwerfällt, dann fragt sie doch einfach). Ich bin mir sicher, dass der Ein- oder Andere, der heute GoHo und insbesonders die Fürther Straße feiert, erschrickt, wenn er ein Gefühl dafür bekommt, was anderen in der Fürther Straße passiert ist.
Und damit habe ich schon fast den zweiten Punkt des BR-Posts abgearbeitet: Der kreative Leerstand ist das eine, der Leerstand in den Herzen derer, die mal bei der Quelle, bei der AEG – aber auch bei Grundig, Cebal oder Triumpf gearbeitet haben, wen interessiert der? Und auch wenn das BR-Post das verneint: Auch in Berlin war da Leerstand: Bergmann-Borsig, am Oberbaum, Adlershof,… um nur einigen Leerstand zu nennen. Ihr seht, es wiederholt sich da was, nur im Kleinen, nur Jahre später.
Zu Punkt drei – ich mache es ganz kurz: Der Franke ist bescheiden – aber was die fränkische Küche an Ideenreichtum und Vielfalt zu bieten hat, was in Franken kulinarisch hergestellt wird, steht ohne jeden Zweifel an der Spitze der Bundesrepublik Deutschland: Kein altbayerischer Einheitsbrei und kein Münchener Pissbier ist in der Lage, nur dem Schatten einer fränkischen Spezialität das Wasser zu reichen. Keine norddeutsche Langeweile, keine westdeutsche Kartoffelpampfevariation tastet sich nur in die Nähe fränkischen Essens, keine schwäbische Maultasche, keine hessische grüne Soße kann das und kein Presskopf dieser Welt kommt vor unserem roten und weißen Pressack. Keine noch so gute Münsterländer Brühwurst nimmt es mit einer durchschnittlichen fränkischen Stadtwurst auf. Sorry, Deutschland, sorry, ihr molekularen Spitzenköche aus aller Herren Länder, sorry ihr Franzosen mit Euren Fröschen, Muscheln und Schnecken – an Franken kommt ihr nicht vorbei, was auch immer ihr zu unternehmen versucht.
Womit ich schon bei Punkt vier bin, der weit weniger rühmlich ausfällt: Der Glubb ist Kult, denn ein positiveres Attribut will mir beim besten Willen für dieses seit Jahren mal in der ersten, mal in der zweiten Bundesliga fortdauerndes Fiasko nicht einfallen. Der Glubb hat sehr leidensfähige Fans – das zeichnet die Franken aus: Treue, Solidarität und Verbundenheit, einen langen Atem. Das macht die fußballerische Minderleistung, die einem da Spieltag um Spieltag geboten wird, freilich nicht besser. Nichts desto trotz: Wir lieben unseren Glubb. Warum, das kann kaum einer für Außenstehende nachvollziehbar sagen. Ich auch nicht. Was hat der Glubb mit Berlin zu tun? Nichts.
Punkt fünf allerdings bereitet mir Stirnrunzeln. Ich erkenne die „Alles-woschd-Mentalität“ eigentlich nur aus den Schriften eines gewissen Klaus Schamberger. Der Franke spricht vielleicht nicht wie ein offenes Buch – aber er hat ein offenes Herz. Und was dieses fränkische Herz erreicht, das ist ihm alles andere als „woschd“. Um das mal wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen: Nürnberger Politik verhält sich im Rahmen dessen, wie sich Politik in einer 500k-Einwohner-Kommune verhalten kann, die vom Strukturwandel arg gebeutelt wurde. Nürnberg ist in seiner Entwicklung gehemmt, weil alleweil Ressourcen nach München abfließen (daran ändern auch so Feigenblattaktionen wie unser neues „Heimatschutzministerium“ in den Räumen der alten Raiffeisenkasse nichts). Großprojekte lassen sich in Nürnberg nicht nur in Anbetracht des recht leeren Stadtsäckes schwer realisieren – wer hier ein großes Projekt anfängt, muss bei seinem Vorgehen hinsichtlich von Größe und Symbolik mit sehr viel Fingespitzengefühl vorgehen, um nicht Gefahr zu laufen, ungewollte Anleihen an die gigantomanischen Bauten der Nazis auf dem Reichsparteitagsgelände zu nehmen. All das sind Herausforderungen, die ein beliebig leichtfüßigen Planen erschweren. Veränderung in Nürnberg ist schwierig oder teuer (oder schwierig und teuer). Das hat aus meiner Sicht aber mit fränkischer Schwerfälligkeit nichts zu tun (na gut, eine Ausnahme mag ich gelten lassen: Die Altstadtfreunde). Die Kritik Dirks kann ich nachfühlen, allerdings sehe ich nur wenige bürgeliche Werte gestützt – noch nicht mal kleinbürgerliche. Für vieles, was an Entwicklung und Gestaltung gewünscht wird, ist Nürnberg auch einfach zu klein oder schon entsprechend (wenn auch nicht gefällig) versorgt. Was brauchen wir denn bitte einen Konzertsaal auf dem Augustinerhofgelände? Wir haben eine Meistersingerhalle mit besonderer Architektur und herausragender Akustik! Man müsste sich nur trauen, diese Halle gegen den momentanen Zeitgeist aufzuwerten und dringliche, lange verschleppte Investitionen tätigen (vgl. hier). Ja, ich denke, dass Nürnberg alles hat, was es braucht. Was nicht da ist, lässt sich aus eigener Kraft bewerkstelligen. Nürnberg wäre mit einem hypehaften Hinterhereifern auch nicht gut beraten.
Soweit zum Post von BR-Puls, der weniger Substanz enthält, als er vermuten lässt und dennoch betrachtenswert ist.
Aber: Nürnberg hat ganz ande Potentiale als Dachbodenkonzerte oder Quelle-Kunsthandwerkern im Etsy-Style.
Nürnbergs Künstler leben und arbeiten nicht nur in GoHo und auf Quelle sondern eben auch an der Münchener Straße, in Maxfeld und am Nordostbahnhof. Das soll über Künstler und Kunsthandwerker aber auch schon genügen.
Über Nürnbergs Start-Up-Sezene kann ich nur wenige Beobachtungen mitteilen – mir scheint, dass man hier sehr solide arbeitet, weil halt hierzulande das venture capital fehlt. Das zwingt zu bodenständiger Arbeit, was gut ist, scheint mir aber auch ein wenig nach angezogener Handbremse auszusehen. Ich will das aber gar nicht schlechtreden, die Bodenständigkeit der Start-Ups passt wirklich gut hierher und es gibt eine noch angenehm überschaubare Zahl Leute, die sprichwörtlich „was mit Medien“ bzw. „was mit Internet“ machen und die sich gut vernetzt.
Nürnbergs Infrastruktur ist im Vergleich noch gut – vor allem aber zuverlässig. Der ÖPNV funktioniert in aller Regel, im Vergleich zu Berlin sind die Mieten (noch) bezahlbar und die Lebenshaltungskosten allgemein im Rahmen. Das Studieren an den Hochschulen ist zwar auch hier kein Zuckerschlecken, dennoch sind sie ausreichend gut ausgestattet. Die Sportstätten sind echt in Ordnung hier, das Sportvereinsleben ist gut organisiert und für städtische Verhältnisse ganz prima. Verglichen mit Berlin ist Nürnberg sauber und ordentlich. Verglichen mit Berlin ist die Lebensqualität in den Stadtteilen hoch, die Kriminalitätsrate gering. Nürnberg ist klein genug, um mit den öffentlichen Nahverkehr oder Fahrrad in akzeptabler Zeit von A nach B zu kommen und Nürnberg ist groß genug, um nichts zu vermissen.
Ich will damit folgendes ausdrücken: Diese $average city$ versus Berlin-Vergleiche zielen ja nur darauf ab, wo sich gerade die spannendsten Internet- und Medienbuden und Jungdesigner befinden. Medienbuden und Jungdesigner allein bringen aber noch keine Lebensqualität. Berlin ist inzwischen zu teuer, um den Leuten mit viel Kreativität und wenig Geld echte Perspektiven zu geben. Und wenn die von Dirk benannte „Berlinifizierung“ hier in der Fläche Fuß fasst, dann wird genau das in ein paar Jahren in Nürnberg auch passieren. Wer bitte wollte das denn wirklich?
Ein Blick in den Rückspiegel hilft, zu verstehen: Nürnbergs Kreative der 1970er und 1980er Jahre schafften sich im KOMM Werkstätten, mit Piratensendern, dann mit Radio Z Gehör, später kam dann die Medienwerkstatt Franken (und in Fürth point). Stadtteilläden brachten Großes hervor, der Hemdendienst, MuZ… Das alles klappte nur, weil zwei Dinge zusammenkamen: Zum einen ist die Stadt in diese Projekte auch finanziell eingestiegen, ohne reinzureden (Vorreiter, der das als erstes kapierte, war der langjährige Kulturreferent Hermann Glaser) zum anderen hatten die Kreativen zuvorderst andere Ansprüche als finanzielle. Der erste soziokulturelle Kahlschlag kam 1996/1997 mit Ludwig Scholz, und es fällt schwer, sagen zu müssen, dass sich unsere schöne Stadt teilweise immer noch nicht von diesem furchtbaren „Bürgermeister“ erholt hat.
Die soziokulturellen Projekte, die ich meine, drehten sich auch nicht so sehr um sich selbst, um die eigene Zielgruppe, wie das leider heute immer öfter der Fall ist, nein, sie hatten neben den jungen Akademikern auch die Senioren, die Schüler, Arbeiter und Angestellten im Blick. In den Stadtteilläden waren zum Beispiel von Anfang an die Alten mit dabei, denn sie gehörten dazu! Und nun frage ich: Wie viele Alte aus Muggenhof kommen denn in die Quelle und wie viele Angebote für Alte gibt es auf Quelle?
Aus meiner Sicht ändert der „Hipstercharme“, wie in Dirk anführt, gar nichts. Der nutzt vielleicht dem Hipster und sonst niemandem. Und solange Kreativprojekte und Soziokultur sich nicht symbiotisch vereinen sondern nur oberflächliche Style-Bedürfnisse bedienen, bleibt es auch bei der „phlegmatischen `Alles-Woschd´-Mentalität in der Region“, die erst dann aufgebrochen wird, wenn die, die sie beschreien, selber aktiv werden. Die Sozialpädagogen der 68er-Generation erkannten beispielsweise, dass Sozialpädagogik nicht nur Verwahren und Versorgen von Menschen bedeutet sondern auch empowerment. Die soziokulturellen Projekte der Vergangenheit waren mehrheitlich erst mal sozialpädagogische empowerment-Projekte. Das sie sich dann in teils gänzlich andere Richtungen entwickelten, sei unbenommen. Die Sozialpädagogen der 60er bis 80er haben auch nicht über eine „Woschd-Mentalität“ gejault – sondern einfach losgemacht und neben den soziokulturellen Projekten im Vorbeigehen auch Forschung und Lehre revolutioniert. Sie mussten zudem politisch arbeiten und sie haben gelernt (was viele der Hipster heute nicht können) wie man Mehrheiten organisiert. Einiges der damals geschaffenen Strukturen existieren übrigens noch heute, nicht alles, was der postnazistischen Weltsicht Scholz´ im Wege stand, ließ sich zu Grunde sparen.
Berlin habe ich hier ähnlich erlebt, mit einem Unterschied: Schon die Morbidität West-Berlinz zog internationale Größen an, die entweder in Berlin wirkten oder Berlin zumindest in ihrem Werk ausgiebig rezipierten. Daraus erwuchs Anspruch und Verpflichtung gleichermaßen, einen Anspruch, dem Berlin als Pleite-Stadt längst nicht mehr gerecht werden kann. Und nun entblödet sich Wowereit noch nicht einmal, Tim Renner als Kulturstaatssekretär einzusetzen. Ich wiederhole nochmal (weil es geradezu absurd scheint und die repetitio der Gewahrwerdung dienen möge): Tim Renner. Als Kulturstaatssekretär. Man fasst es nicht. Berlin ist so runter – wenn ich „Kreativer“ wäre, so würde ich genau jetzt die Flucht ergreifen. Wie schlimm es ist, lässt sich daran ablesen, dass der Tagesspiegel diese fulminante Fehlbesetzung nicht nur launig kommentiert, sondern sich Renner, über Berlin sprechend, auch noch mit dem Satz „Ich mag diese latente Selbstüberschätzung“ zitieren lässt. Oh Gott.
Leute, da lob ich mir Nürnberg! Hier ist man nicht in der Pflicht, einen Superlativ nach dem anderen herauszudonnern, sich von der breiten Masse zu unterscheiden, in dem man jegliche Körperpflege einstellt oder alles als Event organisiert, dass um so massenkompatibler wird, je mehr man sich selbst vom Mainstream abzuheben versucht. Leute, die fränkische Bodenständigkeit mag nur der erdrückend finden, der die echte und tiefe Einsamkeit hinter vielerlei „everybodys darling“-Fasseaden nicht gespürt hat. Nürnberg bietet – ob mit Quelle oder ohne – Freiraum zu Hauf. Das liegt auch daran, dass es hier nur ganz wenige Hipster gibt und viele klar denkende, geerdete Normalos mit dem Herz am rechten Fleck. Das einzige, was man hier tun muß ist, diese Freiräume zu finden, urbar zu machen und zu verteidigen. Heute konzentriert sich viel auf Gostenhof und Johannis, morgen auf Maxfeld und Rennweg, vielleicht Schoppershof und übermorgen sind wir schon wieder ganz wo anders. Im Grunde spielt das aber gar keine Rolle, denn Nürnberg ist ja zum Glück klein genug, dass der weg nicht weit ist.
Für mich persönlich gewinnt Nürnberg daher in diesem absurden „Städte-Schwanzvergleich“.
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* Ich hatte in dieser Zeit auch Gelegenheit, Ost-Berlin und die DDR kennenzulernen. Ich habe daran erschreckend plastische Erinnerungen. Da müsste ich wirklich mal drüber schreiben, aber das bräuchte Zeit… Für hier muss folgendes genügen: In meiner Erinnerung war West-Berlin dunkel und Ost-Berlin menschenleer. Stimmt natürlich nicht, trotzdem komisch, oder?