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Piraten. Klarmachen zum kentern?

Wir haben also eine Piratenpartei. Eine Piratenpartei, die zwar mit schöner Regelmäßigkeit an der 5%-Hürde scheitert, aber auch eine Piratenpartei, die bei Erst- und „Jungwählern“ Achtungserfolge erzielt. Die Piraten stehen nicht allein auf weiter Flur – sie sind vielmehr in einen internationalen Bürgerbewegungskontext eingebunden. Und die Piraten haben Themen klar besetzt: Informationelle Selbstbestimmung, Urheberrecht und open access. Und zu diesen Themen genießen sie einen Expertenstatus. Andere, „etablierte“ Parteien versuchen, hier Anschluss zu finden, derzeit aber nur mit mäßigem Erfolg. Zu den Themen, die in der Internet-Enquetekommission behandelt werden, können viele Piraten mit einem Lächeln rufen „Ick ben allhier!“

Wir haben eine Piratenpartei, die sich trotz großem Bundesparteitag am Wochenende nicht den drängenden Fragen unserer Tage gestellt hat, eine Partei, die nicht über ihren thematisch recht eng definierten Tellerrand hinauszublicken scheint, eine Partei, die dies sogar verweigert.

Allerhand Anerkennung ernten Piraten gerade im Netz, via Twitter und Blogs präsentieren sie sich bestens und ihre Wahlkampfmaterialen zeugen von einem feinsinnigen Humor. Und es gibt eine kleine Gegenbewegung im Netz, die den Piraten nicht minder Anerkennung zollt und dennoch davon abrät, diese Partei zu wählen. Im Regelfall wird von den Kritikern der Piratenpartei nur ein Argument angebracht, das ist aber so stichhaltig und von elementarer Bedeutung, dass es zieht. Und die Piraten konnten es bislang nicht entkräften:

Abseits der von Piraten selbst genannten Themen hat diese Partei schlichtweg kein Profil.

Nach der Wirtschaftskrise kommt die Wirtschaftskrise. Nachdem mittels Milliardeneinsatz viele Großbanken zurück auf die wackeligen Füße gestellt wurden, gehen nun ganze Staaten bankrott. Auf das Rettungspaket der Banken folgt das Rettungspaket für einzelne EU-Staaten und die Schnürung eines Rettungspakets für den Euro antizipiert sich gerade. Was sagen Piraten dazu? Nichts. Sie schweigen.

In Afghanistan herrscht Krieg. Ein Krieg, der genau so sinnlos ist, wie jeder andere Krieg. Trotz umfangreicher „militärischer Maßnahmen“ wird das Land einfach nicht talibanfrei. Mit Demokratieaufbau ist auch nichts zu wollen. Zahllose Menschen haben ihr Leben in diesem Krieg verloren, auch deutsche Soldaten. Wie ist die Position der Piraten? Was sagen sie dazu? Nichts.

Was passiert, wenn die Wasserversorgung privatisiert wird, sehen wir in London. Was passiert, wenn kommunale Wohnungsunternehmen privatisiert werden, sehen wir in nahezu allen großen Städten Deutschlands, im Extrem sind die Folgen in Ostdeutschland erlebbar. Über die (Teil)Privatisierung vieler Stadtwerke will ich gar nicht sprechen, die Folgen sind bekannt. Wichtige Infrastrukturteile werden, sofern nicht von der Politik verhindert, in Zukunft längst nicht mehr allen Bürgern zur Verfügung stehen. Was sagen die Piraten dazu? Sie schweigen.

Warum aber schweigen sie? Eine Erklärung dafür versuchen sie selbst zu geben:

Wir wollen einen neuen Politikstil etablieren: Wir nehmen die Wähler als mündige Bürger ernst (schließlich begreifen wir uns selbst als Teil von ihnen). Da Politiker den Willen des Volkes vertreten sollten, erarbeiten wir unsere politischen Themen einfach gleich mit diesem gemeinsam. Wer findet, dass wir ein neues Themenfeld besetzen sollten, kann dieses mit Piraten und Nichtpiraten gemeinsam im Wiki erarbeiten. Positionen nicht einfach von der Parteispitze festlegen zu lassen, sondern mit den Bürgern zu erarbeiten, kostet allerdings Zeit.

Und weiter:

Unsere Forderungen reichen oft weit in andere Themengebiete hinein. Wir wollen die Grundlagen unserer Gesellschaft so gestalten, dass diese sich zum Besseren wenden, indem wir an den Wurzeln und nicht nur an den Symptomen arbeiten. So haben wir zwar kein entwicklungspolitisches Programm – würden beispielsweise Gene nicht mehr patentiert, hätte dies aber existenzielle positive Auswirkungen für Kleinbauern in Entwicklungsländern. Der Begriff „Arbeitsplätze“ kommt in unserem Wahlprogramm zwar nicht wörtlich vor – unsere Forderung, Bildung kostenfrei und den Zugang zu Wissen, Informationen und Technologien offen zu halten, fördert aber die wirtschaftliche Entwicklung des Landes nachhaltiger als manches kurzfristige Konjunkturprogramm. (Quelle: Webseite der Piratenpartei)

Ein neuer Politikstil? Liebe Piraten, es ist schlechterdings nicht möglich, einen Politikstil zu etablieren, ohne vorher genau definiert zu haben, was mit „Politikstil“ gemeint sein soll. Worum geht es euch? Wollt ihr neue Kommunikationstechnologie mit in die Politik einbeziehen, so ist das noch lange kein „Politikstil“. Wenn ihr das Wort „Politikstil“ synonym mit „politische Kultur“ verwenden solltet, wirft sich die Frage auf, woran sich die neue politische Kultur anlehnen soll. An eine Gesellschaftskultur? An eine Staatskultur? Ok, ihr lasst in euren wenigen Texten spüren, dass es sich wohl um das Mittragen einer demokratischen Kultur handeln könnte, was ihr da veranstaltet, ob euch das die wenigen Frauen in euren Reihen aber seit dem Wochenende noch abkaufen, will ich fast bezweifeln. Was also ist der neue Politikstil?

Weiterhin: Ja, Politiker sollen den Willen des Volkes, der Bürger vertreten. Nur, liebe Piraten, ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass ein Politiker, eine Partei, eine Organisation den Willen des gesamten Volkes vertreten kann. Das können die Parteien im politischen Spektrum schon in Ihrer Gesamtheit nicht richtig leisten, wie will das dann eine einzelne Piratenpartei vollbringen? Um mit dem Dilemma der Willensvertretung des Volkes umzugehen, hat sich bei uns ein System etabliert, das grobgesagt wie folgt funktioniert: Eine konservative Partei versucht, den Willen des Teils der Bevölkerung zu vertreten, der konservativ ist. Eine sozialdemokratische Partei versucht dies für all jene, die sich sozialdemokratisch orierntieren usw. Weil es schwierig ist, zu bemessen, was sich nun hinter den Begriffen „konservativ“ oder „sozialdemokratisch“ o.a. verbirgt, versuchen die Parteien, Antworten auf wesentliche Fragen der Innen-, Außen-, Sozial-, Gesundheits-, Wirtschafts-, …politik zu geben und Positionen zu formulieren. Wer das nachlesen will, sicht nach Positionspapieren oder noch besser: Parteiprogrammen.

Ihr Piraten könnt, auch wenn ihr wollt, nicht den Willen der Bevölkerung abbilden. Es würde euch dabei zerreißen – schließlich müsstet ihr dann auch den Willen von Neonazis, Alt-KPlern, Kleintierzüchtern, Hausfrauen…, integrieren – auch den Willen von Leuten, die weder mit einem Computer umgehen können noch wollen. Das geht nicht. Das geht zuerst einmal generell nicht. Und bei der Piratenpartei geht es schon gleich zweimal nicht: Die absolute Mehrheit eurer Kandidaten (die Liste war ja auch etwas oberflächlich) ist beruflich in der IT-Branche oder fachverwandten oder fachnahen Branchen oder Studiengängen verwurzelt. Damit bildet ihr vom Erfahrenshorizont Eurer möglichen Amtsträger aber lediglich eine kleine Elite ab. Elite ist per se nichts schlechtes, versteht mich nicht falsch – aber wie will eine so kleine Elite den Willen des Volkes repräsentieren?

Ihr schreibt, dass in eurem Parteiprogramm der Begriff „Arbeitsplätze“ zwar nicht vorkomme, aber eure Einlassungen zum Thema Bildung wirkmächtiger wären als so manches Konjunkturpaket. Ihr schreibt zurecht „nachhaltiger“ und greift damit zu kurz. Wir haben jetzt eine wirklich umfassende Wirtschafts- und Finanzkrise. Die kostet jetzt Arbeitsplätze, sie stellt das Sozialsystem jetzt auf eine harte Probe. Ich wiederhole für die Landwirtschaft: JETZT! Natürlich bedarf es – gerade in wirtschaftspolitischen Fragen – einer sauberen Analyse und langfristig wirksamer Strategie. Natürlich ist ein kostenloser und umfänglicher Zugang zu Bildng nicht die schlechteste Strategie. Aber (abgesehen davon, dass ihr nicht verratet, wie ihr das finanzieren wollt) Politik ist nur dann handlungsfähig, wenn sie in der Lage ist, Feuerwehr zu spielen und auf Krisen zeitnah und adäquat zu reagieren. Ich bin beileibe kein Freund der derzeitigen Konjunkturprogramme – aber sie sind allemal besser als schieres Nichtstun! Nichts anderes als dieses „Nichtstun“ verbirgt sich aber hinter der Position, durch die Forderung nach kostenlosem Zugang zu Wissen darauf zu hoffen, dass sich dan nachhaltig auch wirtschaftlich das Blatt zum Guten wendet. Wer sich heute zur Wahl stellt, der muss heute handlungsfähig sein. Und erst dann unterhalten wir uns über Nachhaltigkeit.

Liebe Piraten, auch wenn es weh tut: Selbst die fundichtristliche PBC weiß auf mehr gesellschaftlich relevante Fragen eine Antwort als ihr. Die Antworten, die sie geben, sind nicht meine Antworten. Aber immerhin sind es Antworten. Nichts für ungut – aber ihr bleibt so viele Antworten schuldig, dass ich euch nicht wählen kann.

Manch Mitglied äußert halböffentlich und öffentlich sehr marktliberale Positionen. Sind die Piraten dann marktliberal? Ja, denn wenn es keine Parteiposition gibt, dann ist euer teils absurd konträr laufendes Stimmengewirr Parteiposition. Das kann nicht gutgehen.

Btw.: Auf weitere logische Fehler werdet Ihr in den Kommentaren zu o.g. Quelle zum Teil sehr trennscharf hingewiesen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ebendiesen wertvollen Hinweisen lässt sich nicht finden. Warum nicht?

Da ihr, liebe Piraten, wie so oft eine Antwort schuldig bleibt, unternehme ich den Versuch einer Antwort: Das was ihr „Partei“ nennt, ist eine Bürgerbewegung, die man versucht hat, Partei werden zu lassen. Aber es ist eine Bürgerbewegung. Jetzt kann man sagen, die Grünen waren auch eine Bürgerbewegung und wurden zur etablierten Partei – der größte Unterschied zwischen Grünen und Piraten ist aber, dass sich die Grünen seinerzeit mit der Anti-AKW-, der Umwelt- und der Friedensbewegung gleich drei Bürgerbewegungen öffneten, die sich in Reaktion auf wesentliche drängende gesellschaftliche Probleme bildeten. Die Piraten selbst sind, verglichen mit dem Spektrum dessen, was die Grünen Anfang der 1980er Jahre abzubilden vermochten, nur eine sehr kleine und wie oben schon erwähnt, recht elitäre Bürgerbewegung. Das reicht nicht zur ernsthaften Partei, auch wenn es sich „Partei“ nennt.

„Digitale Bürgerrechte“ sind wichtig und werden in Zukunft noch wichtiger – aber dies ist nur ein kleiner Ausschnitt der „großen Politik“. Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, dass sich hier Piraten wichtiger nehmen, als sie sind, da anzunehmen ist, dass sie sich überproportional häufig im Web austauschen und das Web mit dem Thema „digitale Bürgerrechte“ hervorragend korrespondiert; dieser Umstand ist dazu geeignet, den Blick für die Dimension des eigenen Anliegens zu verzerren. Das eigene Anliegen und die vorgeschlagenen Lösungsmodelle mutieren dann zur eierlegenden Wollmilchsau, mit der sich alle Probleme erschlagen lassen. Wolfram Meinig setzt diese womöglich verzerrte Wahrnehmung einiger Piraten in Bezug zu deren Wahlergebnis:

Mich erstaunt es schon etwas, mit wie viel Selbstsicherheit die meisten Piraten im Web auftreten. Aber wenn man sich richtige Wahlumfragen anschaut (also Umfragen die im „Real Life“ durchgeführt werden) dann kann man schnell erkennen das die Piraten deutlich unter der 5 % Hürde bleiben werden. Ich habe aber das Gefühl, dass dies bei den meisten Unterstützern der Piraten einfach noch nicht wirklich angekommen ist, wahrscheinlich gerade weil es sich nicht in der digitalen Welt (früher hätte man vielleicht auch Hyperspace sagt) abspielt und es zeigt wie eingeschränkt, wenn nicht weltfremd die Wahrnehmung der Piraten ist.

Danilo Vetter hat sich de Mühe gemacht, mal aufzuzählen, was die Piratenpartei alles nicht abdecken kann, trotz der Herzensnähe zu den Piraten. Weitere lesenswerte Betrachtungen findet man auch bei Alex Kempe (hier hat auch ein Herr Tauss in den Kommentaren ins Klo gegriffen) und Adrian Lang.

Was kann man den Piraten raten? „Partei“ zumachen, als Bürgerbewegung weiter aktiv sein, je nach politischer Gesinnung in echte Parteien eintreten und dort wirken…

Ob ich das ernst meine? Ja, denn worauf kommt es an? Dass politisch zugunsten digitaler Bürgerrechte entschieden wird, dass diese gestärkt werden. Nachdem die Piraten auf absehbare Zeit an der 5%-Hürde scheitern werden und sollten sie wider erwarten und alle Vernunft doch einmal ein Mandat erringen, dann kaum koalitionsfähig sind, ist ihre Expertise in einer nicht funktionierenden „Partei“ verloren. Sie könnten diese Expertise aber auch ganz freizügig in andere Parteien tragen. Dann wäre ihrem Anliegen gedient.

P.S.: Klasse! „F: ‚Wieviele Piraten braucht man um einen Turm zu bauen?‘ A: ‚1000. 998 labern nur unproduktiv rum und 2 stapeln die GO-Anträge.'“ (via twitter)

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