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Der 17. Juni ist Tagesschau-Guck-Tag

Tagesschau-Guck-Tag? Was das ist? Der versierte Netzaktivist und erklärte GEZ-Gegner Bernd Höcker ruft dazu auf, am 17. Juni über den Webstream der ARD anzusehen. Um 20 Uhr, also zur Tagesschau-Zeit. Was soll das bringen?

Im Grunde will Höcker nur testen, ob das Internet wirklich als Verbreitungsinstrument für Fernsehen taugt oder der ARD (oder den Telcos) die Server in die Knie gehen. Und damit schlussendlich auch, ob ein PC nebst Internetanschluss das Zeug zum „neuartigen Rundfunkgerät“ hat oder eben nicht (und wenn nicht, dann kann man natürlich auch hinterfragen, ob so ein Gerät dann gebührenpflichtig sein muss).

Höcker schreibt dazu:

„Gesendet“ wird das sog. „Rundfunkprogramm“, bzw. einige Sendungen der ARD als Livestream, wobei jeder User, bzw. jedes Zuschauergerät eine eigene Leitung zum Server zugewiesen bekommt. Wenn sich zu viele Zuschauer einklinken, knickt das System ein, weil dann keine Leitungen mehr frei sind.

Das wäre alles richtig, wenn es nicht theoretisch neben dem klassischen Streaming auch noch die Möglichkeit von Multicast gäbe. Beim normalen Streaming baut der Server jeweils eine Verbindung mit dem Rechner auf, der den Stream anfordert. Je nachdem, wie gut so ein Server angebunden ist und wie viele freie Slots er hat, ist der Dienst ab einer bestimmten, definierten Anzahl an Abrufern  „besetzt“. Nicht so bei Multicast – hier wird der Stream peer to peer, also von Streamnutzer zu Streamnutzer durchgereicht. Theoretisch müsste dann der „Sender“ nur einen einzigen (!) Stream losschicken und er könnte unlimitiert – beliebig oft reproduziert – und von beliebig vielen Menschen empfangen werden. Dieses Multicast kommt der Ideevon Runfunk am nächsten – klappt aber wegen unterschiedlicher Anbindungsarten und fehlenden performanten Protokollen nicht reibungslos und läuft selten stabil.

Doch auch daran hat Herr Höcker theoretisch gedacht, denn er will in erster Linie nicht auf die Art der Verteilung der Sendungen hinaus sondern auf die gesamt zur Verfügung stehende Bandbreite. Und so rechnet Herr Höcker vor:

Lt. Wikipedia lag der gesamte Internetverkehr in Deutschland im April 2010 bei 2 Terabit pro Sekunde (1 Terabit = 1.000 Gigabit oder 1.000.000 Megabit). Wenn man Fersehen über das Internet verbreiten will, braucht man lt. Wikipedia eine Kapazität von 2-6 Megabit/Sek., bei HDTV sogar 6-16 Megabit/Sek.. Nun kann man sich mit den einfachen Grundrechenarten ausrechnen, wieviele Zuschauer ein solches System verkraften kann (ausgehend von einer Übertragungsrate von 3 Megabit/Sek.).

2 Terrabit geteilt durch 3 Megabit = 666.667 Zuschauergeräte könnten max. gleichzeitig im deutschen Internet zum fernsehen bereitstehen. Damit wäre das Internet allerdings auch vollkommen ausgelastet und es könnten keine weitere Aktivitäten, wie Email oder sonstiger Datentransfer mehr stattfinden.

Die Rechnung klingt plausibel. Ob das aber wirklich so hinhaut, wage ich zu bezweifeln, denn bevor wir das Netz durch Tagesschau-Gucken vollendsbelegen, wird, so schätze ich, erst einmal der oder die Server des ersten Programms in die Knie gezwungen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Infrastruktur der ARD so gut ist, dass sie 700000 Rechner parallel mit Streaing Video versorgen können.

Herr Höcker schreibt weiter:

Internet und Rundfunk vertragen sich nach Ansicht von Fachleuten heute noch überhaupt nicht! Die von den Anstalten vielbeschworene Angst, die Bürger könnten ohne die PC-Gebühr heimlich der Rundfunkgebühr entfliehen, indem sie die „Flucht ins Internet“ antreten, wäre also schon technisch ausgeschlossen.

Damit könnte er Recht haben. Über Radio will ich hier nicht diskutieren, aber HDTV über IP zu übertragen ist nicht nur eine Verschwendung von Bandbreite sondern auch selten ein Genuss. Ich habe mir diverse Dienste aus dem Bereich IP-TV angesehen und komme u dem Schluss, dass es selbst mit sehr guter Anbindung nicht immer gut klappt. Schwankende Bildschärfe, asynchroner Ton, matschiges Bild und blasse Farben erinnern nicht immer an High-Tech sondern manchmal auch an die beschränkte (Farbfernseh)-Kameratechnik der frühen 1970er Jahre. Über Satellit ist HDTV ein Genuss.

Unabhängig davon erreichen selbst die Audiostreams größerer öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten (ÖRR) zu bestimmten Zeiten oder bei besonderen Sendungen ihre Kapazitätsgrenze. Mit Web-TV verhält sich das ähnlich. Eine Flucht ins Web-TV ist schon allein deshalb ausgeschlossen.

Das Experiment von Herrn Höcker hat aber trotzdem seinen Reiz. Ich bin jedenfallssehr gespannt, ob ich am 17. Juni ein Fernsehbild am Notebook zu sehen bekomme. Wenn nicht, dann ist nicht allein der Beweis angetreten, dass streaming media nur eine zusätzliche Verbreitungsform darstellt. Damit wäre im Ansatz auch bewiesen, dass IPTV derzeit keine gangbare Alternative zu DVB-T, Kabel- und Satellitenempfang darstellt.

Grundsätzlich muss ich noch anfügen, dass ich selbst sehr unzufrieden bin mit der Politik der ÖRR Sendeanstalten, Gebühren für internetfähige Computer zu verlangen, denn

  • ich kann nicht sehen, dass ein Computer den Charakter eines Empfangsgerät hat. Internet und Rundfunk sind außerdem nicht nur technisch sondern auch rechtlich zwei Paar Stiefel
  • Niemand zwingt die ÖRRs, ihre Programme via Streaming zu verbreiten. Wenn sie dies wollen und praktizieren, müssen sie damit leben, dass es Leute gibt, die sich in dieser Lücke bedienen. Alternativ könnte man jedem Gebührenzahler einen registrierten und anonymen Key aushändigen, mit dem jeweils nur ein Programm von einem Gerät per streaming media empfangen werden kann. Wenn ich diesen dann weitergeben oder gar öffentlich posten würde, könnte nur jeweils einer gucken oder hören.

Ich werde mich voraussichtlich (wenn es die Zeit zulässt) am Experiment beteiligen. Zum einen weil Herr Höcker in Sachen „Rundfunkgebühr auf internetfähige Computer“ meine Zustimmung hat und zum anderen, weil ich neugierig bin (und mir nicht vorstellen kann, dass streaing media ein in der Fläche sinnvoller Verbreitungsweg ist).

Anmerkung: In den Jahren 2004 bis 2007 betrieben wir mit dem Projekt „loungepalais“ ein Webradio, dessen Primergy-Server von der Anbindung her etwa 800 Slots in einer Qualität von 64kbps mp3/pro hätten anbieten können. Das war zur damaligen Zeit ein hervorragender Wert. Dazu ist es aber meines Wissens nie gekommen, denn bei etwa 100 Hörern mit 128kbps und genau so vielen mit 64 kbps und vielleicht zehn ISDN-Freunden mit 48kbps waren beide Maschinen an der absoluten Leistungsgrenze. Es geht hierbei nicht nur um die zur Verfügung stehende Bandbreite (Herr Höcker, das möchten Sie bitte in Ihre Ü-Tberlegung mit einbeziehen) sondern auch um die Leistungsfähigkeit der Server. Man stelle sich vor, welche Rechenleistung die Geräte benötigen würden, um mal eben 5 Millionen Streams rauszuschicken. Und das will man dann noch redundant aufgebaut wissen… Das klappt nicht – zumindest nicht stabil.

Unter gez-abschaffen.de findet Ihr weitere Infos.