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Milgram 2.0

1961. Der US-amerikanische Sozialpsychologe Stanley Milgram will es wissen: Sind Deutsche autoritätshöriger als andere Völker? Und ließe sich so erklären, warum so viele Deutsche den Nationalsozialismus mittrugen und sich von ihm zu schweren Verbrechen verleiten ließen? Milgram startet ein Experiment, dass, einem Theaterstück ähnlich, mit Schauspielern auf einer „Bühne“ – dem definierten räumlichen Versuchsaufbau – durchgeführt wurde. Nur ein Teilnehmer des Experimentes war nicht in das Setting eingeweiht – und um dessen Verhalten bzw. Reaktion ging es.

In Zeitungen wurde 1961 inseriert. Für eine im Dienste der Wissenschaft geopferte Stunde sollte der Proband vier Dollar bekommen. Etliche bewarben sich. An der Hochschule angekommen, wurde unter dem Schauspielern und dem echten Versuchsteilnehmer ein fingiertes Los gezogen, der echte Teilnehmer erhielt die Rolle eines „Lehrers“, der einem einen „Schüler“ verkörpernden Schauspieler – dieser befindet sich festgeschnallt auf einer Art elektrischem Stuhl – immer dann in der Stärke ansteigende Stromschläge mittels einem Schalterkasten verabreicht, wenn dieser bei der Wiedergabe vorher erlernter Wörter einen Fehler macht. Bei etwa 70 Volt beginnt ein Stromstoß – und reicht bis zu 400 Volt.

Was passiert?

(hier noch einmal der Link zum Video – Google-Videos lassen sich ja wirklich scheiße eibetten!! Und hier findet sich eine Zusammenfassung in unter drei Minuten)

Zweck des Experiments war, herauszufinden, wie weit Menschen unter dem Einfluss des autoritären Versuchsleiters und den Schmerzensschreien des Schülers bereit sind, einem Fremden Qualen zuzufügen. Das erschreckende Ergebnis aus dem Jahr 1961: Von 40 untersuchten Personen brachen 14 das Experiment vorzeitig ab, 26 Personen verabreichten den maximalen Stromstoß mit einer Spannung von 450 Volt.

Im Film I wie Ikarus (Frankreich, 1979) wird das Milgram-Experiment im Übrigen (zwar nicht zu 100 Prozent wissenschaftlich korrekt – aber) gut verständlich nachempfunden:

Knappe 50 Jahre später wird das Experiment in Frankreich wiederholt, mit einer wesentlichen Änderung: Statt der Autorität eines Wissenschaftlers wird die Autorität einer „Gameshow“ herangezogen. Der „Versuch“ wird wiederholt, allerdings in einem Fernsehstudio – vor Publikum. Der Versuchsaufbau ist dem des Originalexperiments sehr ähnlich.

81 Prozent der 80 „Kandidaten“ gingen, so wird berichtet, bis zum Letzten, waren also bereit, dem „Schüler“ den (in der Realität gegebenenfalls tödlichen) maximalen Stromstoß zu versetzen – und taten dies.

(Hier ein Video vom Stern, der die aktuelle Situation in Frankreich aufzeigt).

Der viel publizierte Schluss: Was beim Milgram-Experiment die Autorität des Wissenschaftlers (vgl. hierzu den o.g. Wikipedia-Artikel) abbildete und zu einem verheerenden Ergebnis führte, ist heute die Autorität des Apparates Fernsehen – und verleitet Menschen wie Du und ich zu unvorstellbarer Grausamkeit.

Wirklich?

Man ist angesichts der Tatsache, dass sich Menschen in einem Format wie Deutschland sucht den Superstar von einem Typen, der sich Dieter Bohlen schimpft, vor einem Millionenpublikum demütigen lassen, geneigt, diesen Schluss als richtig anzuerkennen.

Gestern hörte ich erstmals in der Früh von der Wiederholung des Milgram-Experiments auf B5. Und heute werden erste Zweifel laut: Telepolis will wissen, dass zumindest einige der Probanden „eingeweiht“ waren oder den hinter dem Originalexperiment stehenden Versuchsaufbau kannten. Man könnte meinen, dass sich die „Kandidaten“ ertappt fühlten, aber in Anbetracht der Tatsache, dass mir das Milgram-Experiment bereits in einer der ersten sozialpsychologischen Vorlesungen, die ich je hatte, serviert wurde und dass es in Filmen und in der Literatur reichlich bemüht wurde, kann ich mir das vorstellen.

Frankreich, so ist zu lesen, diskutiert. Das ist ein Gewinn – nicht nur für Frankreich, schließlich fand die Erstausstrahlung der „Show“ auf dem Sender France 2 ein internationales Medienecho. Ich gebe aber zu bedenken, dass für mich noch nicht abschließend geklärt ist, ob dem Fernsehen in der Tat so viel Macht zukommt, wie der Film glaubhaft machen will.

Nach wissenschaftlicher Kritik zum Milgram-Experiment muss man nicht lange suchen. Das irritiert mich selbst weniger, mehr aber irritiert mich, dass ein Experiment, dassder Faschismusforschung diente, kopiert wird, um die Machit des Fernsehens zu demonstrieren und zu hinterfragen. Es steht außer Zweifel, dass Massenmedien zur Zeit des Nationalsozialismus einen erheblichen Anteil an der Ermöglichung der Verbrechen hatten. Das Milgram-Experiment aber auf diesen einen Aspekt durch Umdeutung zu reduzieren, scheint mir zumindest unwissenschaftlich.