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Missachtung, Misshandlung, Einzelhaft und Zwangsarbeit: Über die Fürsorgeerziehung der 1950er bis 1970er Jahre (und die Kirchen waren ganz vorn mit dabei)

In den letzten Tagen und Wochen stand es wiederholt in den Nürnberger Nachrichten: Misshandlung von Schutzbefohlenen in sog. Fürsorgeheimen waren in den 1950er bis 1970er-Jahren (und aller Wahrscheinlichkeit noch darüber hinaus) nicht nur „bedauerliche Einzelfälle“ – sie traten flächendeckend auf.

Im Zentrum der Kritik steht in Franken das Jugendheim „Stapf“ eine Einrichtung der Nürnberger Caritas. Dort sollen, will man der Zeitung Glauben schenken, über Jahre hinweg Kinder und Jugendliche schwerst misshandelt. Der Sozialpädagoge Franz Ochs, ich habe ihn eigentlich als integren Mann kennengelernt, gibt am 4. April in den NN den Überraschten.

Die Zeitung zitiert ihn in einem Interview wie folgt: „Ich war wirklich überrascht von all dem. Man muss das sehr ernst nehmen, die schlechten Erlebnisse wie die guten, von denen in Leserbriefen in Ihrer Zeitung auch die Rede war. Das alles liegt 50 Jahre zurück und es geht sicher nicht darum, heute Rechenschaft von uns zu verlangen. Dass die Menschen ihre Zeit im Heim ganz unterschiedlich wahrgenommen haben, ist ganz normal.“

Ich will noch nicht einmal behaupten, dass Her Ochs gewusst hat, was sich in der Vergangenheit in seiner Einrichtung abspielte (es fällt mir aber schwer, das zu glauben). Schlimm und bedrückend ist dieses Zitat aber, weil er sofort ins Relativieren kommt und in Anbetracht der Schwere der Vorwürde von der unterschiedlichen Wahrnehmung der ehem. Heimkinder spricht und auch „guten Erlebnissen“. Kann man die Opfer dieses Heimes eigentlich subtiler verhöhnen? – Ja, man kann, denn es geht durchaus um Rechenschaft. Und noch um viel mehr: Um Entschuldigung und um Entschädigung. Und am wichtigsten: Um Rehabilitation der Opfer.

Weiterhin ist in einem NN-Artikel zu lesen: „Erbrochenes sei ihr von einer der betreuenden Nonnen wieder in den Mund gestopft worden, berichtet Petra Stettner (alle Namen geändert), eine 54-jährige Frührentnerin. Während der Jahre, die sie von 1956 bis 1962 in der Leopoldstraße verbracht hat, seien ihre Hände oft zur Strafe auf heiße Ofenplatten gepresst worden.
Sie sei in einem dunklen Keller gesperrt, geschlagen, an den Haaren gerissen und regelmäßig mit eiskaltem Wasser aus dem Duschschlauch ins Gesicht gespritzt worden. Kleinere Kinder seien regelmäßig mit Füßen und Händen in ihren Gitterbettchen festgebunden worden, das habe sie mit eigenen Augen gesehen.

Vergangenen Donnerstag las man in den NN dann die Zuschrift einer Leserin, die in bewundernswerter Weise mutig ihre Erlebnisse schilderte und auch nicht darauf verzichtete, ihren Namen und Wohnort in der Zeitung abdrucken zu lassen – Respekt!

Sie schreibt u.a.: Nicht nur im Kinderheim Stapf wurden kleine Kinder an die Gitter­stäbe des Bettes festgezurrt. Auch im Caritas-Kinderheim, in der Pirckheimer Straße, mussten Kin­der Erbrochenes essen.“, Die Kinder wurden an den Füßen und unter den Schultern mit schma­len Stoffbändern an die Gitterstäbe ihres Bettchens wirklich richtig fest­gezurrt. Nachts schlugen sie mit den Köpfen an die Gitterstäbe, dass man es bis in das obere Stockwerk hören konnte“ und Ich könnte ewig so weiter schrei­ben. Ich sitze hier, und mir kommen die Tränen. Ich war von 1953 bis 1956 im Caritas-Säuglingsheim und anschließend kurze Zeit im Stapf“.

Auch andere Medien gaben und geben Zeugnis von den flächendeckenden Misshandlunge n von Kindern und Jugendliche n, die in Heimen untergebracht waren, so zum Beispiel der Beitrag „Einzelhaft und Zwangsarbeit“ (2005) des WDR oder die Tag 7 – Reportage „Ich bin ein Heimkind“ (2006) ebenfalls WDR. Aber damit nicht genug – schon in den 1970er Jahren machte Ulrike Meinhof mit dem Drehbuch zum Fernsehspiel „Bambule“ (erschienen im Berliner Wagenbach-Verlag, mehrere Auflagen, die letzte mir bekannte Anfang dieses Jahrzehnts)* auf die gravierenden Misstände in deutschen Fürsorgeheimen aufmerksam. Es kann also niemand – wirklich niemand, auch nicht Herr Ochs behaupten, von nichts gewusst zu haben.

Nicht nur die katholische Kirche hat in diesem Kontext zu Hauf schwere Schuld auf sich geladen, auch die Evangelische Kirche war nicht besser (wie hier ausführlich dokumentiert, Bildnachweis). Eine weitere gute und weniger gefärbte Dokumentation findet sich auch auf den HEIMseiten.

Man kann argumentieren, dass die Zeiten damals andere waren, Gewalt in der Erziehung einen anderen Stellenwert hatte und größere Akzeptanz erfuhr. Aber wer will so argumentieren? Besonders Christen steht das nicht an! Es ist keine Entschuldigung für exzessive Misshandlungen. Und: Nicht nur das Verhalten von Erziehern, Diakonen und Nonnen ist verachtungswürdig, auch ist der Umgang der Kirchen mit diesem Thema zutiefst beschämend.

Ich frage mich: Was hindert die Kirchen daran, diesen institutionalisierten Missbrauch zuzugeben, sich bei den Opfern umfassend und persönlich zu entschuldigen und sie auch angemessen für das Erlitene zu entschädigen?

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* Auszüge und Kommentar auch auf den Webseiten von Hypies.com hier